Lichtenrade, kurz und liebevoll „Lira“ genannt, liegt so weit südlich in Berlin, dass einige vor meinem Umzug unkten, da könne ich ja gleich nach Brandenburg ziehen. Ja, tatsächlich, Lichtenrade hat wenig gemeinsam mit der hektischen Großstadt, und auch die Lichtenrader an sich bilden eine eigene Gattung. Eine kleine Kunde am lebenden Objekt.


Der Lichtenrader gehört zwar zur Gattung der Berliner, ist auch optisch nicht von diesen zu unterscheiden, teilt aber nur bedingt den Lebensraum der hippen Cafés, „stylischen“ Modemessen und Staus. Er sträubt sich zuweilen gegen die Berliner Lebensart, die zwischen internationalen Veranstaltungen, politischen Posen und morbiden Schulgebäuden schwankt, sondern bevorzugt den überschaubaren, vorstädtischen Grünstreifen des Stadtrands. Hier – zwischen der Marienfelder Feldmark und dem quirligen Tempelhof – hat er seinen Bau errichtet. Meist handelt es sich dabei um Einfamilienhäuser und maximal vierstöckige Miets–, aber selten um Hochhäuser.

Kaum dringen die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolken, wird der Lichtenrader um seinen Bau geschäftig; er jätet und buddelt, sät und gießt, was das Zeug hält, denn er liebt Pflanzen. Jede noch so kleine Ecke nutzt er, um sie mit Blumen zu verschönern – deshalb hält es der Lichtenrader auch nicht für notwendig, das Unkraut am Straßenrand abzumähen, schließlich kann auch Unkraut bezaubernd blühen!

Allgemein zeichnet sich der Lichtenrader durch ein sehr soziales Wesen aus. Er will nicht isoliert vom Rest der Gemeinschaft in einer anonymen Siedlung wohnen, sondern sucht den Kontakt zu Nachbarn und Gleichgesinnten. Typisch für ihn ist die Bildung von Initiativen, Vereinen und Interessengruppen wie „BI Rettet die Mariendorfer Feldmark“, „Lichtenrade/Mahlow-Nord gegen Fluglärm e.V.“, „Lichtpunkt49“ oder „AG Bahnhofstraße“. Dabei versteht er sich nicht als „Wutbürger“, wie er manchmal von den Medien verunglimpft wird, sondern als engagierter Bürger. Diese Geselligkeit drückt sich auch in ungewöhnlichen Aktionen aus, etwa einem kollektiven Beschnuppern aller Initiativen im Mai 2012 auf der Bahnhofstraße.

Eine weitere Besonderheit des sozialen Miteinanders: Stehen zwei Herren beim Gespräch fast auf dem Damm, so pflegt der Berliner lautstark zu hupen. Schließlich muss er seinem Recht auf freie Fahrt Geltung verschaffen. Der Lichtenrader dagegen bremst, schleicht drum herum, denn er glaubt an gegenseitige Rücksichtnahme. Während der stets unfreiwillig verspätete Berliner Autofahrer bei einer kreuzenden Rentnerin schon rot anläuft und kurz vor der Explosion steht, signalisiert der Lichtenrader Autofahrer, dass man sich nicht eilen müsste. Dennoch: Der Lichtenrader ist kein Kind von Traurigkeit, wenn es um Schnelligkeit geht – auch er nutzt gern die „Startbahn nach TF“, die B96, um zu metern.

Denn metern muss der Lichtenrader, wenn er seine Brut ernähren möchte, und zwar meist bis in die Berliner Innenstadt. Alternativ zum Auto nutzt er die S-Bahn, denn die verbindet beide Lebensäume in nur 20 Minuten. Abends kehrt er in sein Revier zurück und kauft ein. Hektik? Fehlanzeige. Gemächlich piepen die Kassen, und die gemütliche Art des Lichtenraders verbietet


ihm, herumzumosern. Stattdessen legt er in seinem Bau die Füße hoch, genießt Sonnenuntergang und Vogelgezwitscher und freut sich, dass „Berlin“ zwar nah, aber doch weit genug weg liegt.

 

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